DOMRADIO.DE: Was meinen wir Christen, wenn wir von Spiritualität sprechen?
Elmar Nass (Professor für Christliche Sozialwissenschaften und gesellschaftlicher Dialog an der KHKT): Im Begriff Spiritualität steckt natürlich der Geist drin: "Spirit" auf Englisch. Das heißt, es geht letztlich um eine Beseelung des Menschen. Was ist mein Habitus, mein Charakter? Was macht mich als Menschen im Letzten aus? Dazu kommt, dass die Spiritualität dabei auch aus christlicher Sicht nicht nur allein auf das Irdische bezogen ist, sondern offen ist und damit rechnet, dass es noch etwas anderes gibt als menschliche Logik, menschliches Wissen, menschliche Vernunft. Das zusammen hilft dem Menschen, sich getragen zu fühlen. Getragen zu fühlen – aus christlicher Sicht – natürlich von Gott. Also zu wissen, egal was passiert in meinem Leben, in schweren Situationen, aber auch in guten Situationen: Ich habe in mir etwas, was nicht allein irdisch und menschlich ist, sondern ich habe den Geist Gottes in mir.
DOMRADIO.DE: Papst Benedikt XVI. hat mal gesagt: "Es gibt so viele Wege zu Gott, wie es Menschen gibt." Das heißt doch, dass Spiritualität etwas sehr Individuelles ist, oder?
Nass: Einerseits ja. Spiritualität hat etwas mit Identität zu tun. Was macht mich als Menschen aus? Vom christlichen Menschenbild her gedacht, ist ja die Individualität des Menschen etwas ganz Hohes im Gegensatz zu einer Vermassung des Menschen und der Unterordnung unter ein Kollektiv. Andererseits ist Spiritualität aber nicht der Beliebigkeit anheimgestellt. Aus christlicher Sicht gehört zur Spiritualität immer eine Beziehung. Zum einen natürlich eine Beziehung zu mir selbst. Das ist diese individuelle Seite. Aber in dieser Beziehung zu mir selbst entdecke ich immer Gottes Geist in mir. Der ist in jedem Menschen präsent. Das ist nicht irgendetwas, nicht irgendeine Energie oder irgendetwas von uns selbst Konstruiertes, sondern ich als Individuum begegne dem transzendenten Gott in mir. Spiritualität hat also etwas Individuelles und doch etwas Verbindendes.
DOMRADIO.DE: Professor Nass, Sie sind Sozialethiker und beschäftigen sich mit Kategorien von "Gut" und "Schlecht". Gibt es eine schlechte Spiritualität?
Nass: Auf der einen Seite gibt es natürlich Abarten der sogenannten "Spiritualität", die sich mit dunklen Kulten beschäftigen. Im okkulten Bereich, in dem man an böse Mächte glaubt. Da ist selbstverständlich für uns, dass das eine schlechte Spiritualität ist, weil hier eine Gegenmacht zu Gott gedacht und konstruiert wird. Auf der anderen Seite gibt es aber natürlich auch die gutmeinenden Menschen, die auf der Suche sind, wirklich Gott in sich zu finden - nicht etwas Okkultes und nicht etwas Böses. Da glauben wir als Christen, dass wir einen inneren Kompass haben, dieses Gute in uns zu entdecken. Wir glauben in unserer ethischen Tradition, dass in uns die Fähigkeit zugrunde gelegt ist, etwas Göttliches zu erkennen. Da sollten wir durchaus auch selbstbewusst sein, indem wir die Schrift zur Hand nehmen, indem wir das Gebet kultivieren, indem wir aber auch mit Mitchristen darüber ins Gespräch kommen, was für uns der Geist Gottes bedeutet. Letztlich ist der wesentliche innere Kompass der Heilige Geist, dem wir in uns Raum geben müssen.
DOMRADIO.DE: Christen werden immer weniger in unserer Gesellschaft. Ist unsere Gesellschaft damit auch weniger spirituell?
Nass: Man muss da natürlich wieder unterscheiden: Gewisse andere Arten von Spiritualität gibt es natürlich. Auch im Managementbereich spricht man überall vom "Spirit", vom Geist und auch von einer Spiritualität. Aber die dezidiert christliche Spiritualität geht tatsächlich immer mehr zurück. Ich glaube, sie ist aber gerade jetzt wichtig für uns um die Geister in der Welt zu unterscheiden. Es gibt so viele falsche Propheten - da braucht man ja nur in die aktuelle Politik zu schauen. Wer gibt uns da das Instrumentarium an die Hand, hier zu unterscheiden? Wem kann ich vertrauen? Wem kann ich folgen? Das Christentum glaubt daran, dass es eine objektive Instanz gibt: Gottes Geist, der nicht von Menschen gemacht ist, der sich auch nicht korrumpieren lässt. Jesus Christus ist das Maß des Guten. Darauf vertrauen wir. Er ist der Spiegel für die Wahrheit und für das Gute. Nicht etwa menschliche Rhetorik oder menschliche Parolen. Den, glaube ich, brauchen wir mehr denn je. Als Schutz vor allen Formen von falschen Propheten, aber auch von Despotie und Terror.
DOMRADIO.DE: Was können wir als Gesellschaft gegen diese falschen Propheten tun?
Nass: Dass wir in unserer Gesellschaft darauf achten, dass nicht nur Menschen mit hoher Fachkompetenz Verantwortung übernehmen, sondern diese auch gefestigte und spirituelle Menschen sind: spirituelle Menschen in dem Sinne, dass sie einen inneren Habitus haben, dass sie Tugenden haben, die dem Guten entsprechen. Solche Menschen, die eine innere Beziehung zu Jesus Christus haben, die aus dem Gebet heraus leben, daraus eine innere Ausgeglichenheit ziehen und diese auch ausstrahlen, brauchen wir mehr denn je. Sie haben einen wachen Blick dafür, die Geister zu unterscheiden. Auch im Umgang mit ihren Mitarbeitern: Auf wen kann man hier vertrauen? Auf wen nicht? Sie sind Vorbilder in dem Sinne, dass sie ihren Mitarbeitern Mitverantwortung geben und Eigenverantwortung zutrauen. Das gehört zutiefst zum christlichen Menschenbild. Sie setzen darauf, dass die Menschen sich nicht nur finanziell motivieren lassen, sondern dass sie aus einer inneren Begeisterung für ihre Arbeit eintreten. Gerade in christlichen Organisationen liegt diese intrinsische Motivation auf der Hand. Die Mitarbeiter müssen an den Führungspersonen ablesen können, wie man aus einem christlichen Geist heraus leben und leiten kann – und können sich daran ein Beispiel nehmen.
Das Interview führte Gerald Mayer.