Groß und grau hängen sie an rostigen Eisenketten an der Wand - ein paar gigantische Knochen. Kölnerinnen und Kölner bezeichnen sie als "Zint Märjens Repp" - Sankt Marias Rippe. Wie der Name entstand, ist unbekannt. In jedem Fall sind die Knochen eine Kuriosität, die die Menschen schon immer fasziniert hat.
Die Knochen befinden sich in der Kölner Kirche St. Maria im Kapitol. Die frühromanische Basilika steht auf den Grundfesten des einstigen römischen Kapitolstempels und enthält viele Kostbarkeiten, darunter eine der weltweit ältesten mit Figuren verzierten Holztüren - entstanden vor rund 1000 Jahren.
1966 schwamm "Moby Dick" den Rhein hinauf
Wenn man wissen will, was es mit den Knochen auf sich hat, muss man mit Anna Pawlik sprechen, ihres Zeichens Kölner Erzdiözesankonservatorin. Sie enthüllt: Es handelt sich um Knochen eines Wals. Ein Wal in Köln? Völlig abwegig ist das nicht, denn über den Rhein hat die Stadt eine direkte Verbindung zum Meer.
Der Vater der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, Thomas Jefferson, beschrieb Köln im 18. Jahrhundert als eine 200 Kilometer landeinwärts gelegene "Seehafen"-Stadt. 1688 wurden die Einwohner von einem Seemonster aufgeschreckt, das "mit großem Gebrüll und Brausen" durch den Rhein pflügte.
1966 schwamm ein Weißwal den Strom hinauf und gelangte bis nach Rolandseck in Rheinland-Pfalz, bevor er wieder umdrehte. Anfangs versuchte man, das Tier - genannt "Moby Dick" - mit Betäubungspfeilen zu treffen, doch nach heftigen Protesten aus der Bevölkerung wurden die Fangversuche eingestellt. Die Proteste gelten heute als eine der Geburtsstunden der deutschen Umweltschutzbewegung. Der arme Wal fand schließlich von allein wieder in die Nordsee zurück.
Walknochen und Haifischzähne
Die Knochen, die über einem Beichtstuhl in St. Maria im Kapitol hängen, sind allerdings noch viel älter. "Sie stammen aus dem Brustkorb und dem Kiefer eines Grönlandwals, der während des Pleistozäns gelebt hat", sagt Anna Pawlik. Das Pleistozän endete vor rund 12 000 Jahren.
Wann, wo und wie die Knochen gefunden wurden, ist unbekannt - erwähnt wurden sie erstmals im 17. Jahrhundert, sie können aber auch schon viel länger in der Kirche aufbewahrt worden sein. "Wir gehen davon aus, dass es Funde sind, die beim Bau der Kirche aufgetaucht sind", sagt Anna Pawlik. "Es ist gar nicht so ungewöhnlich, am Niederrhein auf Walknochen zu stoßen. Nördlich von Xanten sind noch vor einigen Jahren etliche Walknochen und Haifischzähne gefunden worden, weil das eben wirklich ehemaliger Meeresboden ist."
Auch in der Bibel kommt ein Wal vor
Warum aber wurden die Knochen ausgerechnet in einer Kirche zur Schau gestellt, wo sonst nur Kreuze und religiöse Bilder zu sehen sind? Der Grund dafür dürfte eine der beliebtesten Geschichten aus dem Alten Testament gewesen sein, die Geschichte von Jona. Dieser wird gemeinerweise auf See über Bord geworfen, von einem Wal oder Riesenfisch verschluckt, aber nach dreitägigem Aufenthalt wieder ausgespuckt.
Es gab also einen konkreten Anknüpfungspunkt an die Bibel. In neuerer Zeit überstanden die Knochen sogar die Bombardierungen im Zweiten Weltkrieg - vermutlich waren sie rechtzeitig im Keller oder an einem anderen sicheren Ort eingelagert worden.
So hängen die Knochen des uralten Wals also immer noch in der Kirche und werden dies auch weiter tun. "Sie gehören einfach dazu", sagt Anna Pawlik. "Über viele Generationen hinweg haben Menschen sie angeschaut und vermutlich alle darüber nachgesonnen, was es damit auf sich haben könnte. Es sind Kuriositäten, die die Fantasie anregen und zu Geschichten inspirieren. Einfach spannend!"